27
Sep
2020

Der gefesselte blaue Elefant

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Wortfetzen drangen durch die geschlossene Bürotür. Sie konnte hören, dass er missmutig war. Wie immer in letzter Zeit. Zu Beginn hatte er noch optimistisch geklungen und das Ganze als Chance betrachtet, eine strukturelle Umstellung sei überfällig gewesen, die langen Arbeitswege nicht mehr zeitgemäß. Doch seit einigen Wochen machte sich eine zunehmende Verstimmtheit bemerkbar. Ihnen gegenüber war er zwar bemüht, seinen Ton zu mäßigen, doch sie ärgerte sich trotzdem über die bittere Stimmung, die von ihm ausging.

Daher schnappte sie sich wie gewohnt Oskars Gummistiefel und Regenjacke, zog den kleinen Zwerg an und ging mit ihm vor die Tür. Es war zwar den Vormittag über trocken gewesen, doch man wusste zu dieser Zeit nie, wann einen der nächste heftige Schauer überraschte.

Im Treppenhaus roch es unangenehm nach kaltem Rauch. Sie nahm Oskar an die Hand und riss auf dem Weg nach unten sämtliche Fenster auf. In diesem Dickicht aus Schadstoffen konnte man doch nur krank werden. Draußen im Freien atmete sie tief ein und genoss die gesunde Luft in ihren Lungen. Sofort erhellte sich ihr Gemüt und auch Oskar wirkte sehr zufrieden – trotz der Totenstille, die um die beiden herum herrschte. Das störte den Kleinen wenig. Er hüpfte munter neben ihr her, und wenn er sich über etwas ärgerte, dann lediglich darüber, dass sie ihn nicht frei umhertollen ließ, wie er es von früheren Spaziergängen gewohnt war.

Hin und wieder erblickten sie auf der nahegelegenen Straße Autos, die beinahe geräuschlos wie geflohene Gefangene vorbeischlichen. Sie entfernten sich vom Wohngebiet und schlugen einen Schotterweg ein, in dessen Unebenheiten sich das schmutzige Regenwasser der vergangenen Tage gesammelt hatte. Oskar wollte mit seinen bunten Gummistiefeln darin spielen, doch sie erklärte ihm, dass er dafür nicht die passende Bekleidung trug. Er würde sich nur erkälten, wenn seine Hose nass würde. Sie hatte mit mehr Gegenwehr gerechnet, doch der kleine Mann ertrug sein Schicksal wie ein großer. Auch dass es sicherer war, wenn sie ihn an der Hand hielt, schien er tapfer zu akzeptieren.

Außer ihnen waren kaum Menschen unterwegs. Wenn ihnen überhaupt jemand entgegenkam, machte er einen großen Bogen um die beiden wie sie selbst zuvor um das dreckige Wasser der Pfützen. Sie verspürte Dankbarkeit für die achtvollen Begegnungen und nickte verstehend.

Schließlich erreichten sie den Spielplatz, auf dem Oskar noch vor ein paar Monaten mit Freunden seinen vierten Geburtstag gefeiert hatte. Beim Anblick des rotweißen Absperrbandes beschlich sie ein dumpf stechender Gedanke. Was, wenn es nächstes Jahr noch immer so wäre? Niemand sollte seinen fünften Geburtstag ohne Freunde feiern müssen.

»Mama, warum ist der Elefant gefesselt?« Oskar zeigte auf das Schaukelgerät ein paar Meter vor ihnen. Die Ohren des blauen Elefanten hingen müde herunter, seine traurigen Augen und der ungepflegte Holzsitz zeugten von Einsamkeit und Verwahrlosung. Zu allem Übel hatte man das Spielgerät zigfach mit dem rotweißen Absperrband umwickelt, kreuz und quer verliefen Striemen über den gesamten Körper und schnitten schmerzhaft in das zersplitternde Holz. Traurigkeit stieg in ihr auf.

»Damit wir alle gesund bleiben«, antwortete sie und drängte den Kloß in ihrem Hals zurück.

»Aber er kann doch nichts dafür.« Innerlich freute sie sich, dass ihr Sohn bereits einen solch ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besaß. Doch es war unmöglich, ihm zu erklären, warum einzelne derzeit Opfer brachten, um das große Wohl zu schützen.

Den Rest ihres Spaziergangs verbrachten sie schweigend. Sie fragte sich, ob Oskar über den Elefanten nachdachte, hoffte jedoch, dass er sich kindlicheren Gedanken hingab.

Zuhause ärgerte sie sich kaum noch über das Verhalten ihres Mannes. Wenn sie sich fortan umblickte, erkannte sie überall blaue Elefanten.

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