30
Mrz
2020

Du bist gegangen

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Du bist gegangen. Du bist gegangen, obwohl du versprochen hast, immer bei mir zu bleiben. Du hast versprochen, an meiner Seite zu bleiben. Ein Leben lang. Für immer und ewig. Komme, was wolle. Du wolltest mit mir die Welt bereisen, den Sonnenuntergang in Venedig erleben. Und irgendwann in unserem Wintergarten sitzen und in die Ferne träumen – von vergangenen Zeiten. In unserem eigenen Wintergarten, den du eigenhändig bauen wolltest, obwohl du überhaupt kein handwerkliches Geschick besitzt. Aber es wäre unserer gewesen. Und ich hätte ihn geliebt. Du wolltest mit mir dein Leben verbringen, jeden Tag neu beginnen und jeden Abend denken: „Das machen wir morgen wieder.“ Du hast versprochen, mir Kinder zu schenken, sie aufwachsen zu sehen, sie zu begleiten, zu bestärken, ihnen die Welt zu zeigen, und sie ihren eigenen Weg finden zu lassen – stets in dem Wissen, dass wir beide hinter ihnen stehen. Wir wollten gemeinsam jeden Advent im Vorgarten stehen und lauthals schief die schönsten Weihnachtslieder singen, sodass wir unseren Kindern peinlich sind. Du wolltest mit mir gemeinsam weinend im Türrahmen stehen, wenn wir sie einst verabschieden. Wir wollten uns trösten, gegenseitig ermuntern weiterzumachen. Meine Augen beginnen zu schmerzen. Du hast versprochen, gemeinsam mit mir den Sinn des Lebens zu finden, und ihn wieder zu verlieren, damit ihn auch andere nach uns noch finden können. Wir wollten zusammen den nächsten Frozen-Film schauen und uns schluchzend mit feucht-heißen Küssen trösten und sagen, dass alles wieder gut wird. Du wolltest mir Kraft spenden, in Leid und in Krankheit, du wolltest mich lieben, mich halten, mich nie mehr loslassen, nicht einmal, wenn das Leben dich dazu zwingt. Du hast versprochen, mit mir zu lachen, wenn ich nicht mehr in meine alten Jeans passe und erkenne, dass ich nun wirklich erwachsen bin, du hast versprochen, jeden Tag mit mir zu tanzen, selbst wenn wir alt sind und beide im Rollstuhl sitzen. Hand in Hand rollen wir durch die Gänge und zwingen die Schwestern dazu, uns Platz zu machen. Wir wollten jeden Tag spielen, du sagtest, du möchtest sehen, wie ich mit grauem, krausen Haar vor dir sitze und mich ärgere, weil ich immer noch nicht gelernt habe, zu verlieren, obwohl der Titel des Spiels mich dazu auffordert. Eine brennendheiße Träne rollt mir über die Wange, als mich das Türklingeln aus meinen Gedanken reißt. Schnell wische ich sie mir mit dem Ärmel aus meinem Gesicht.

Du hast deinen Schlüssel vergessen. Ich reiche ihn dir und drücke dich fest zum Abschied. Du lächelst und schlägst vor, heute Abend etwas vom Chinesen mitzubringen. Dann gehst du.

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