Grün
Sie wusste nicht, was sie dort überhaupt suchte. Natürlich hatte sie arbeiten und Geld verdienen müssen, aber musste es ausgerechnet an diesem Ort sein? Was konnte sie hier schon finden, abgesehen von öder Landschaft und großer Langeweile so weit das Auge reichte? Wenn sie aus dem winzigen Fenster ihres Gästezimmers starrte, in dem sie die letzten fünf Wochen ihres neuen Lebens verbracht hatte, dann war ihr elendig zumute. Vor ihr lag eine kaum befahrene Straße, die so schmal war, dass entgegenkommende Autos auf die kleine Einfahrt vor dem Gästehaus ausweichen mussten, um unbeschadet aneinander vorbeizugelangen. Und direkt dahinter: Grün. Nichts als Grün. Wäre es zumindest vielfältiger gewesen und ein freudiges, strahlendes Grün, hätte sie der Landschaft, die sie von nun an umgeben sollte, vielleicht noch etwas abgewinnen können. Aber dieses Grün vor ihr war nicht leuchtend, stellenweise verlief es sogar ins Bräunliche.
Ungläubig kehrte sie dem Fenster den Rücken und setzte sich wieder an den Artikel, den sie in zwei Tagen abgeben sollte. „Hoffnungssuche – Was der Mensch im Leben zu finden hofft.“ Woher sollte sie das wissen? Wenn sie in ihrem zweiundzwanzigjährigen Leben bisher überhaupt etwas gefunden hatte, dann waren das ihre neuen besten Freunde „Frust“ und „Enttäuschung“. Und wenn sie an die grüne Sackgasse dachte, in die sie sich gerade reichlich unelegant manövriert hatte, dann wollte sie lieber sagen: „Ein anderer sollte diesen Artikel schreiben.“ Doch das konnte sie nicht. Immerhin hatte die Agentur sie eingestellt, weil ihre bisherigen Werke so erfrischend und innovativ gewirkt hatten. Aber damals hatte sie sich auch mit Themen befasst, mit denen sie sich auskannte. Mit „Liebe“ und „Treue“, mit „Verrat“ und „Untreue“. Aber was zur Hölle sollte sie mit dem Begriff „Hoffnung“ anfangen, wo doch ihr Leben gerade das Gegenteil darbot?
Resigniert klappte sie den Laptop zu, zog sich ihren Lieblingsroman aus dem kleinen Regal über dem Schreibtisch und warf sich damit auf ihr gerademal 1x2m großes Bett. Dieses Zimmer mit seiner in die Jahre gekommenen Möblierung und den altkitschigen Rosenrankentapeten war wie gemacht für hoffnungslose Singles. Die letzte Endstation auf einer Reise zur absoluten Resignation. Desillusioniert und auf der Suche nach einem rettenden Ausweg schlug sie den Roman auf und atmete erleichtert den wohlbekannten Duft von Sehnsucht und Erfüllung ein, der wie jedes Mal zuvor Vorfreude in ihr weckte. Seite um Seite verschlingend drang sie tiefer in die Traumwelt ihrer Literatur ein. Es störte sie nicht, dass die meisten Seiten bereits vergilbt und abgegriffen waren, solange sie die Buchstaben entziffern konnte, würden sie ihre magischen Kräfte schon entfalten.
Plötzlich erschrak sie. Ein lautes Poltern an der Tür riss sie aus den Wirrungen ihrer Gedanken. Und gleich noch einmal hämmerte jemand rücksichtslos an die Holztür ihres Zimmers, bevor sie, ohne eine Antwort abzuwarten, aufgerissen wurde. „Da sind Sie ja. Ich habe mehrfach nach Ihnen gerufen. Das Dinner ist angerichtet“, polterte die Hausdame, die gleichzeitig die Besitzerin dieses räumlichen Exils für gescheiterte Existenzen war, entrüstet und strich sich die verwüstete Schürze glatt, um dann wieder nach unten in den Salon zu stapfen und den armen Seelen dieses Hauses das Essen zu servieren. Jeder einzelne Schritt auf den knarrenden Holzdielen klang wie ein letzter Aufschrei des sterbenden Holzes, das unter ihren unnachgiebigen Schritten zu leiden schien.
Sie konnte es nicht. Unmöglich konnte sie sich ohne Protest zu den anderen gesellen und ihr Schicksal so wehrlos annehmen. Sollte sie etwa akzeptieren, dass sie nun eine von ihnen war, gestrandet am braungrünen Ende der Welt? Nein. Das konnte sie heute einfach nicht. Vielleicht war es der Artikel, der sie zum Nachdenken gebracht hatte, vielleicht waren es auch die letzten Wogen des fantastischen Romans, die noch in den hinteren Winkeln ihrer Seele wüteten, jedenfalls fasste sie urplötzlich den Entschluss, das Abendessen ausfallen zu lassen und vor die Tür zu gehen.
„Wo wollen Sie um diese Uhrzeit denn noch hin?“, rief ihr die Dame des Hauses entsetzt hinterher, doch sie hörte sie gar nicht mehr. Ohne nach links und rechts zu sehen, überquerte sie die Straße vor ihrem Fenster und schritt innerlich getrieben auf das moosige Gras zu, welches sie auf merkwürdige Weise in ihren Bann zu ziehen versuchte. Die Luft war frühsommerlich warm, der Boden vor ihr feucht von den Regengüssen, die in dieser Gegend das Leben beherrschten. Wohlwissend, dass sie jeden Moment nass werden könnte, stapfte sie weiter geradeaus fasziniert von dem genüsslich schmatzenden Geräusch, das ihre Füße beim Betreten und Verlassen des natürlichen Untergrundes mit jedem Schritt hervorriefen.
Sie war bereits einige Minuten durch das lockende Grün geschwebt, als sie erkannte, dass von dem kleinen Gasthaus und der Straße nichts mehr zu sehen oder zu hören war. Stattdessen stand sie inmitten der unberührten Natur, umgeben von Hügeln und Tälern, deren Farben mit einem Mal viel saftiger und klarer wirkten. Zum ersten Mal, seit sie vor einigen Wochen in dieser nebelverschleierten Gegend angekommen war, schien es ihr möglich, frei zu atmen, ohne dabei den Druck des Vergangenen auf ihrer Brust zu spüren, der sie einschnürte wie ein zu eng gewordenes Korsett. Tief holte sie Luft und sog den Duft des frischen Grases und der spärlich sprießenden Blumen um sie herum ein, die sie zuvor noch nie gesehen hatte und deren Namen sie nicht kannte. Berauscht von Düften und Farben der Umgebung lief sie immer tiefer in das Grün hinein und verspürte dabei eine zuvor ungeahnte Hoffnung.
Mehrmals blinzelte sie mit den Augen, denn sie konnte nicht glauben, was sie vor sich sah. Eigentlich wirkte der kleine See mit seinem reizend klaren Wasser und den leuchtenden Wasserrosen vor ihr ganz gewöhnlich, doch die Atmosphäre, die ihn umgab, kam ihr magisch vor. Wie im Traum ließ sie das Dickicht, das den See umrahmte wie ein schützender Wall, hinter sich und trat näher an das Wasser heran, das eine faszinierende Wirkung auf sie ausübte. Im Bann des kühlen Nass´ betrat sie einen kleinen Holzsteg, der sie freudig in Empfang nahm, und starrte gedankenversunken in die dunkle Tiefe des Gewässers. Erinnerungen an ihre Kindheit tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Sie waren fröhlich und tanzten vor ihr durchs Wasser. Dann verschwanden sie jedoch und plötzlich bahnte sich etwas aus der Tiefe seinen Weg an die Oberfläche.
Zunächst erkannte sie sie nicht. Doch mit jedem Zentimeter, den sie der spiegelnden Oberfläche näherkam, wurden die schemenhaften Umrisse klarer und dann sah sie, wie sie unwirklich aus dem Wasser auftauchte. Zunächst konnte sie ihre traumhaftschönen langen Haare bewundern, die sich in faszinierenden Locken um die makellos porzellanfarbige Haut ihrer nackten Brüste wanden. Es war ihr nicht möglich, den Blick von ihr abzuwenden. Wie im Bann starrte sie das fantastische Wesen mit ungläubigem Blick an, das gerade vor ihren Augen aus den Untiefen des Sees aufgestiegen war. Als die Wasserfrau ihre Augen langsam öffnete, weckte das strahlende Grün, das ihr fordernd entgegenleuchtete, tiefe Sehnsüchte in ihr. Gleichzeitig fing sie an, das Wasser zu beneiden, welches dieser Frau so nah sein und sie berühren durfte.
„Komm, schwimm mit mir!“, flüsterte das Wasserwesen engelsgleich mit singender Stimme. Zunächst zögerte sie, doch je länger sie der Frau zusah, wie sie genüsslich ihre lockenden Kreise durch das sinnliche Nass zog, desto mehr Bedenken flossen dahin und schließlich war sie so weit, ihr in die traumhafte Welt zu folgen, die so verheißungsvoll vor ihren Füßen lag. Rasch ließ sie ihre Schuhe zu Boden fallen, doch gerade, als ihre nackten Zehen das kalte Wasser berührten, ließen die plötzlich von ihnen erzeugten Wellen das Bild der Wasserfrau verschwimmen und es schien, als erwache sie aus einer fabelhaften Erinnerung. Am anderen Ende des Ufers erkannte sie eine goldene Statue, dessen Spiegelbild sich gerade so verzerrt im Wasser darbot. Sie konnte sich nicht erinnern, diese Statue zuvor gesehen zu haben, so fasziniert war ihr Blick seit der Entdeckung dieses Ortes tunnelartig auf das Wasser gerichtet gewesen. Die gerade zu Boden gefallenen Schuhe zog sie zügig an und schritt durch hohes Gras auf die Statue zu, die ihr mittlerweile unübersehbar entgegenleuchtete. Ihre golden strahlende Haut wurde von noch kraftvoller strahlenden langen Haaren umrahmt, welche die Windungen ihres sinnlich geformten Körpers verzierten. Die Frauenstatue stand auf einem steinernen Sockel, den Rosenranken und zauberhafte Runeninschriften verzierten, welche sie nicht zu entziffern vermochte.
Doch je näher sie der Statue kam, desto aufwühlender wurden ihre Gedanken. Und als sie schließlich ein letztes Mal ihre Augen öffnete und den Blick erwartungsvoll auf sie richtete, schienen die Augen der goldenen Frau gespenstisch zu blitzen. Erschrocken riss sie sich aus ihrem Bann und verließ diesen Ort, ohne noch einmal zurückzuschauen. Je näher sie der Straße kam, desto trüber wurden ihre Gedanken. Noch vor kurzem hatte sie sich wie im Rausch gefühlt, doch die lieblich zitternden Wogen der Erinnerung verblassten mehr und mehr, je näher sie sich dem Gästehaus zuwandte. Aufgewühlt von den Erlebnissen des Abends ging sie schlafen. In dieser Nacht träumte sie wirr, von nordischen Göttern und verführerischen Tänzen. Doch als sie am nächsten Tag aufwachte, schrieb sie ihren Artikel und hörte erst wieder auf, als sie fertig war. Noch am selben Tag reichte sie ihren Text in der Agentur ein. Als ihre Vorgesetzte sie mit ihren leuchtend blonden Haaren in Empfang nahm, lächelte sie gütig und sagte bloß: „Schön, dich wiederzusehen.“